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Sonntag, 21. November 2010

Gewaltsignale unserer Zeit (02)

Christian Buschan MSc
Mitbegründer der
VITAO ALPEN AKADEMIE
Artikelserie
Jugendgerechter Jugendkult?

Immer mehr Kinder, Jugendliche und Erwachsene zeigen heute Auffälligkeiten, die stark an das psycho-organische Syndrom (POS) erinnern. Die Symptome der Betroffenen sind auch für Laien unübersehbar:

•  Ein Gefühl der Leistungsschwäche, häufig verbunden mit dem Gefühl, nie die Ziele zu erreichen – auch nicht die selbst gesteckten! Und dies unabhängig davon, wie viel man tatsächlich erreicht hat (gestörter oder fehlender Realitätsbezug).

•  Probleme mit der Organisation des Alltagslebens: Planungsmängel, Chaos, Schwierigkeiten mit dem Einhalten von Regeln, es mangelt an Pünktlichkeit, Gehorsam, Sorgfalt und Hygiene. Aufgaben werden vertrödelt oder gar nicht erledigt, zu viele gleichzeitig laufende Vorhaben, kaum etwas wird konsequent bis zum Ende durchgezogen (Schul- oder Lehrabbruch z.B.).

•  Die Neigung, auszusprechen, was einem gerade in den Sinn kommt, ohne Rücksicht darauf, ob man den richtigen Zeitpunkt oder die richtige Gelegenheit dafür gewählt hat (man denke an das unaufhörliche Handy-Geplapper und -gesimse ringsum!).

•  Mangelnde Toleranz gegenüber ruhigen, stillen "Leerzeiten", daher häufig hektische Jagd nach hochgradiger Stimulierung bis hin zu eindeutigem Suchtverhalten ("Kick" oder "Flash" muss her – um jeden Preis).

•  Ablenkbarkeit, Konzentrationsprobleme, die Neigung, mitten in der Lektüre eines Textes oder mitten in einem Gespräch abzuschalten. Das alles nicht selten verbunden mit der paradoxen Fähigkeit zu kurzer extremer Aufmerksamkeit (krasse Comics und Flyer, hektische Videoclips, Piktogramme statt ausführlichem Schrift- oder Bildgut).

•  Ungeduld, geringe Frustrationstoleranz, aufbrausendes Temperament, Impulsivität im Reden und Handeln: Impulsives Geldausgeben, Schnäppchenjagd, Ändern von Plänen (Last-Minute-Angebote), wahlloses
Herumprobieren, zielloses Wählen neuer Berufe.

•  Die Neigung, sich unaufhörlich unnötige bis geradezu lächerliche Sorgen zu machen. Mit Argusaugen wird Ausschau gehalten nach Anlässen zur Sorge, abwechselnd mit Blindheit oder Gleichgültigkeit gegenüber realen Gefahren (Bin ich "in", dünn oder schön genug? Essstörungen).

•  Chronisch angeschlagenes Selbstwertgefühl, unzutreffende Selbstbeurteilung. Innere Unsicherheit, Stimmungsschwankungen und Stimmungslabilität. Motorische und/oder innere Unruhe (unaufhörliches paradoxes Balzverhalten, "Gezappel", Suizidneigung).

•  In der Herkunftsfamilie gehäuftes Auftreten von POS, manisch-depressiver Erkrankung, Depression, Suchtverhalten (Tabak, Alkohol, Medikamente, illegale Drogen), Probleme mit der Impulskontrolle oder mit Stimmungen (wütende Gewaltausbrüche bereits wegen Nichtigkeiten, Vandalismus, Suizidgedanken).

Eine Ursache für diese Symptome liegt in der unbewussten Förderung des Narzissmus bei Kindern und Jugendlichen durch ihre Bezugspersonen. Eine auch hierzulande weit verbreitete psychologische Bewegung glaubt, dass es richtig sei, das Selbstwertgefühl der Heranwachsenden durch Lob nach Kräften zu fördern. Auf so genannt ”Destruktives” – vor allem auf klare Grenzen oder gar Kritik! – sei zu verzichten. Jedem Kind wird eingehämmert, es sei etwas ganz, ganz Spezielles, ja geradezu abgöttisch Einzigartiges.

Die Vermutung, dass es vom übersteigerten Selbstwertgefühl zum Narzissmus nur ein kleiner Schritt ist, wurde von mehreren Studien bestätigt. Es konnte nachgewiesen werden, dass narzisstische Personen vermehrt zur Aggression neigen, wenn sie kritisiert werden. Die permanent Gelobten fühlen selber, dass ihre gespielte Überlegenheit eine sehr brüchige ist. Übertrieben heftig reagieren sie deswegen auf das Infragestellen ihrer Person. Ein gefährlicher Nebenaspekt des unaufhörlich gelobt Werdens ist die Neigung, die Verantwortung für eigenes Fehlverhalten abzulehnen und andere zu beschuldigen. Unbeteiligte zu Opfern zu machen ist nicht nur sozial zersetzend, sondern fördert auch die Bereitschaft, Probleme gewaltsam lösen zu wollen.

Depressive Störungen haben in der Schweiz seit den fünfziger Jahren um das Zehnfache zugenommen. Ebenso dramatisch zugenommen haben die Selbstmordanfälligkeit, die Häufigkeit von Gewalttaten, die Suchtprobleme sowie die Anfälligkeit für zahlreiche neurotische Erkrankungen.

Selbstunsicherheit und Schüchternheit sind längst Zeitkrankheiten geworden, die auf die verhängnisvolle Überzeugung zurückgehen "Etwas stimmt nicht mit mir". Schamängste wurden zu einem neuen Volksleiden, welches besonders von Jugendlichen meist aggressiv überspielt wird. In der Schweiz hat die Suizidneigung besonders bei Jugendlichen stark zugenommen. Bei Männern zwischen 15 und 44 Jahren ist die Selbsttötung inzwischen zur häufigsten Todesursache geworden!