Christian Buschan MSc Mitbegründer der VITAO ALPEN AKADEMIE |
Ethik, Werte und Normen
Die letzten zwei Jahrzehnte haben fast alles in Frage gestellt und teilweise zielstrebig unterhöhlt: Ethik, Moral, Gesetze, Grenzen, Kulturen. Sowohl die am höchsten einzustufenden Einstellungswerte, als auch die schöpferischen und die (echten!) Erlebniswerte sind heute einem erschreckenden Zerfallsprozeß ausgesetzt. Selbst fundamentale Werte eines funktionierenden Gemeinwesens wie Solidarität, Hilfsbereitschaft und Uneigennützigkeit verlieren in der täglichen Realität Schritt für Schritt an Wert. Oberflächlichkeit und Beliebigkeit werden von vielen vor Stabilität, Verlässlichkeit und Dauerhaftigkeit gestellt.
In allen gesellschaftlichen Bereichen bestehen zunehmende Defizite an aktiver Vermittlung grundlegender ethischer Werte und Normen sowie an persönlichem Vorbild. Dieses halte ich für die eigentliche Bedrohung unserer Gesellschaft. Nicht die Freiheit von etwas scheint mir deshalb wichtig, sondern die Freiheit zu etwas, beispielsweise die Freiheit, sich für ein ethisch vertretbares Leben entscheiden zu können.
Ethik entstammt dem Bedürfnis nach Orientierung. Ethische Probleme ergeben sich beim Fragen nach tieferem Sinn, z.B. bei der Frage nach dem Sinn des eigenen Lebens. Konflikte zwischen dem Recht auf Entfaltung des Einzelnen und den Rechten der Gesellschaft sowie die Verteilungskonflikte, die wir heute haben, rufen nach Orientierung. Die Notwendigkeit von Einigkeit verlangt ebenfalls nach Ethik. Es geht bei der Ethik also nicht nur um grundlegende sittliche Werte und Normen wie die Ehrfurcht vor dem Leben, das Übernehmen von Verantwortung, niemandem schaden wollen, Hilfe in der Not leisten, Mitsprache, Gerechtigkeit und Ausgleich. Sondern es geht auch um Güter des Menschen, die ethisch bedeutsam sind wie beispielsweise das Leben, die Freiheit, die Wohlfahrt, die Sicherheit, die Menschenrechte und die Würde. Die Folgen der gegenwärtigen Normenkonflikte liegen auf der Hand: Es geht in erster Linie um die Beeinträchtigung der Rechte der Gesellschaft durch Gewaltanwendung aller Art bis hin zur Gefährdung des Rechtsstaates, durch Korruption, durch Ausgrenzung, Not und Verelendung von Minderheiten.
Grundlegende ethische Konflikte lassen sich zurückführen auf die Spannung zwischen der Autonomie des Einzelnen und dem Paternalismus, also der Suche der Gesellschaft nach Eingriff, nach obrigkeitlicher Hilfe. Es geht um die Freiheit des Einzelnen versus das Recht und die Pflicht des Staates zum Eingreifen. Die sozialen und finanziellen Folgekosten des Nichteingreifens oder Zuwartens liegen in aller Regel um das Vielfache höher als jene der frühzeitigen Intervention. Es geht also auch um den Schadenersatz an die Gesellschaft. Wie lange noch dulden wir, dass einzelne anderen kollektiven Schaden zufügen? Die Frage ist also nicht ob, sondern ab wann und wie weit die Gesellschaft den Einzelnen von der Schadenstiftung abhalten darf.
Heute dominiert die individuelle Selbstentfaltung. Ordnungsfaktoren wie Familie, Familienleben, Kirche, Erziehung und Schule zählen kaum noch, sie werden oft sogar belächelt. Das übersteigerte Bedürfnis nach Selbstverwirklichung und den Drang, alles und jedes um jeden Preis auszuprobieren, halte ich schlicht für zerstörerisch. Dabei stellt sich Selbstverwirklichung von selbst ein, wenn ein Mensch den tieferen Sinn seines Lebens erfüllt. Sobald Selbstverwirklichung jedoch selber als Lebenszweck verstanden und krampfhaft erzwungen werden soll, kann sie nur noch verfehlt werden. Die Logotherapie benützt das Ausmaß der eigenen Orientierung auf einen Lebenssinn sogar als Hauptkriterium für psychische Gesundheit! Ethische Werte wie Nächstenliebe, Pflichtbewusstsein und Dienstbereitschaft – ja die Ethik selbst – werden heute zunehmend in Zweifel gezogen, Laisser-faire und Beliebigkeit sind im Vormarsch. Viele jagen wie pickende Hühner dem Sinn des Lebens nach und geben sich nie mit dem Erreichten zufrieden. Mit dem Ergebnis, dass sie schließlich nichts in Händen halten und das wirkliche Leben an ihnen vorüberzieht.
Hedonismus, die Orientierung am Lustprinzip, ist in Mode. Gemeint ist das Streben nach und das Bewahren von positiven Zuständen. Dabei wird den kurzfristigen Erlebnissen mehr Bedeutung beigemessen als den langfristigen Folgen. Hedonismus bedingt Sorglosigkeit, diese wird selbst zum angestrebten Dauerzustand. Sorgfalt würde mindestens kurzfristig Aufwand bedeuten, deswegen wird sie gemieden. Sorglose Menschen ignorieren Informationen, die ihnen längst Sorgen machen müssten. Ihre Frühwarnsysteme sind ausgeschaltet, und sie sind kaum motiviert, bestehende Gefahren überhaupt wahrzunehmen. Sie bewahren sich vielmehr ihre unkritische gehobene Stimmung und wenden raffinierte Strategien an, um ihre Sorglosigkeit beibehalten zu können.
Die hedonistische Sofort-Mentalität ist die Geschäftsgrundlage für die vom Marketing künstlich beschleunigten Zyklen von Herstellung und Verbrauch. Ein regelrechtes Enthemmungsprogramm wird inszeniert, eine Abkehr vom alten Ideal des Aufschiebens und Abwartens. Selbstkontrolle war einmal das Merkmal persönlicher Reife! Das gilt für die wachsende Sphäre des Konsums nicht mehr. Wir dürfen und wir sollen wieder sein wie die Kinder: Lass es raus! Greif zu! Ins! Trink! Reise jetzt, bezahle später! Du darfst!
Besonders krass zeigt sich diese Haltung am antisozialen Verhalten zunehmend zahlreicherer Menschen im öffentlichen Raum: Schwindendes Unrechtsbewusstsein im Straßenverkehr als Ausdruck offener Aggression, Mauscheln und Betrügen als Lebensprinzip und Lebensgrundlage, primitive und einfältige Sprache als Ausdruck von Beliebigkeit und unscharfen oder behinderten Denkens. Besonders widerliche Indizien dieses Niedergangs sind Kotze, Spucke, Pisse und Scheiße überall. Sind dies vielleicht die letzten Zeichen der endgültig Gescheiterten? Das Verludern des Anstandes und der guten Sitten hat immerhin schon ganze Weltreiche aufgeweicht und letztlich zerstört...