Christian Buschan MSc Mitbegründer der VITAO ALPEN AKADEMIE |
"Salutogenese - was uns gesund macht und erhält"
Das Kohärenzgefühl
Bereits die „Midtown Manhattan”-Studie von Leo Strole (1962, et al. 1980) beschreibt drei Schlüsselressourcen, die beitragen zu einer Immunisierung gegenüber der potentiell zerschmetternden Wucht extremer, von außen kommender Not: Eine stoische Kraft („Sei-erwachsen-Ethos“), enge Familienbindungen und ein Gefühl besonderer Gruppenidentität. Hätte Strole diese Ressourcen in Copinginstrumente umgesetzt, wäre das Konzept des Kohärenzgefühls wohl wesentlich früher entstanden. Der englische Begriff Coping meint „damit zurechtkommen, auf eine gute Art bewältigen“. Das Kohärenzgefühl ist ein durchdringendes, dynamisches Vertrauen in die eigene umfassende Lebensbefähigung. Es drückt nicht nur aus, wo man sich auf dem Gesundheits‑Krankheits‑Kontinuum gerade befindet. Sondern es erlaubt auch eine Prognose darüber, zu welchem Pol hin man sich gerade bewegt.
Die drei zentralen Komponenten des SOC sind Verstehbarkeit, Handhabbarkeit und Bedeutsamkeit. Verstehbarkeit als die Möglichkeit, die Welt zu verstehen, ist dabei als Kernelement definiert: Sie ist zum einen das Ausmaß, in welchem man innere und äußere Reize verstandesmäßig als strukturiert, vorhersehbar, erklärbar und damit als sinnhaft wahrnimmt. Zum anderen erlaubt Verstehbarkeit das Unterscheiden dieser Reize: Nämlich in die Gruppe der geordneten, nachhaltigen, strukturierten und klaren Informationen sowie in die Gruppe der chaotischen, ungeordneten, willkürlichen, zufälligen und unerklärlichen Informationen. Selbst unvermittelt eintretender Tod, Krieg und Versagen sind erklärbar.
Handhabbarkeit ist definiert als das Ausmaß in dem man wahrnimmt, dass man über geeignete und ausreichende Ressourcen verfügt, um mit den Anforderungen der realen Welt fertig zu werden. Wer ein hohes Maß an Handhabbarkeit erlebt, fühlt sich zum Beispiel selten ungerecht behandelt oder gar in der Opferrolle.
Bedeutsamkeit schließlich repräsentiert innerhalb des SOC die motivationale Schlüsselkomponente: Sie beschreibt das Ausmaß, in dem man das Leben emotional als sinnvoll empfindet. Bedeutsamkeit liefert den Antrieb für das Verbessern des Verständnisses der eigenen Welt und für das Verbessern der eigenen zur Verfügung stehenden Ressourcen. Bedeutsamkeit schafft das Gefühl, dass die im realen Leben gestellten Probleme und Anforderungen es wert sind, nach Möglichkeit energisch gelöst zu werden.
Damit kann das SOC zusammenfassend wie folgt beschrieben werden: Als eine alles umfassende Orientierung, die ausdrückt, in welchem Ausmaß man ein durchdringendes, andauerndes und dennoch dynamisches Gefühl des Vertrauens hat. Ein Vertrauen darauf, dass im Verlaufe des Lebens die inneren und äußeren Reize vorhersehbar, erklärbar und strukturiert sind. Dass einem die notwendigen Ressourcen zur Verfügung stehen, um mit den Anforderungen, die von den genannten Reizen ausgehen, konstruktiv fertig zu werden. Und das Vertrauen darauf, dass die von den Reizen ausgehenden Anforderungen Herausforderungen sind, die Anstrengung und Engagement lohnen. Das SOC ist damit eine dispositionale Orientierung und nicht etwa bloß ein Zustand oder eine Eigenschaft.
- Das Erlangen und Aufrechterhalten eines starken Kohärenzgefühls ist jedoch an vier ultimative Bedingungen gebunden:
- Die Person muss es für sich selbst bedeutsam finden, ihre eigenen Gefühle zu kennen und ihre zwischenmenschlichen Beziehungen aktiv zu gestalten.
- Sie muss es wichtig finden, sich mit der eigenen Tätigkeit identifizieren und sich existentiellen Fragen stellen zu können.
Zu letzterem sind beispielsweise gemeint: Unausweichlicher Tod, unvermeidliches Scheitern, nicht wieder gut zu machende Fehler, unauflösliche Konflikte und bedrückende Isolation. Wenn auch nur eine der vier ultimativen Bedingungen nicht ausreichend erfüllt ist, kann sich kein dauerhaft starkes Kohärenzgefühl einstellen oder erhalten.
Insbesondere die Forschungen zum Austritt aus dem Berufsleben zeigen, dass Flexibilität immer in Richtung beider Pole möglich ist: Personen mit starkem SOC können ohne größere Probleme ihre Berufsrolle allmählich ausklingen lassen, während sie sich sozusagen fließend bereits in neuen Lebensbereichen wie kommunaler oder künstlerischer Tätigkeiten engagieren. Oder sich in bisher bereits früher aufgebauten und gepflegten Bereichen noch intensiver einbringen.
Es gilt hier ernsthaft zu warnen vor dem so genannten „rigiden SOC“, einer pathologischen Ausprägung des Kohärenzgefühls: Personen mit nur gespielt starkem, in Wirklichkeit jedoch schwachem SOC verbeißen sich verblendet in ihre (Gruppen-)Identität, um nur nicht den schrecklichen Ängsten in sich selbst zu begegnen, an denen sie gerade wegen ihres schwachen SOC leiden. Man könnte auch von Pseudointegration als Schutz gegen nagende Verzweiflung sprechen. Wer beispielsweise betont locker meint, alle Probleme ließen sich lösen, bricht früher oder später angesichts der Realitäten erschüttert und verzweifelt zusammen. Tiefeninterviews mit Mitgliedern radikaler und/oder fundamentalistisch orientierter Gruppen oder Sekten belegen dies mit zutiefst erschreckender Deutlichkeit.