Blog & Themen-Netzwerk durchsuchen

Montag, 11. April 2011

Gibt es eine im Hirn eingebaute Tötungshemmung? Das Loren-Dilemma.

Eine Anwendung der Neurowissenschaften auf ethisches Verhalten und Vernunft

Christian Buschan
Mitbegründer der
VITAO ALPEN AKADEMIE






Die Freiheit, die uns geschenkt ist, kulminiert sinnvollerweise in dem Begriff der Verantwortung. Diese ist das Vermögen, sich zur eigenen Vernunft und Emotionalität in ein Verhältnis zu setzen. Es wäre nicht sinnvoll, dieses Vermögen einfach nur als Vernunft zu bezeichnen. Dieses Vermögen ist kaum essentialistisch als eigene Hirnaktivität bestimmbar. Sie hat ihre Dimension in der Wirklichkeit der Aufforderung. Diesen Aufforderungscharakter kann die Hirnforschung aber durchaus ver­deutlichen. Hierzu seien die Beispiele des so genannten Loren- und des Fußgängerbrücken-Dilem­mas erwähnt – kleine Beispiele aus der Hirnforschung, die aufzeigen, daß auch ethische Dilemmata ihren Nieder­schlag in der Hirnaktivierungskonfiguration finden können, und daß unser Umgang mit der Ethik, mit dem Sollen, "rationale" und emotionale Zentren auf völlig unterschiedliche Weise tangiert.

Beim Loren-Dilemma handelt es sich darum, daß eine Zuglore, ein kleiner Transportwagen mit fünf Personen, auf der Fahrt unmittelbar vor einem Unglück steht, bei dem diese fünf Personen zu Tode kommen würden. Ein Beobachter kann eine Weiche betätigen und auf diese Weise die Lore umlei­ten, was aber dazu führen würde, daß eine unbeteiligte Person zwischen den Geleisen von dieser Lore erfaßt und getötet würde. Die meisten Menschen entscheiden sich dafür, daß man die fünf Menschen rettet und dafür den Tod des einen Unbeteiligten in Kauf nimmt. Darüber kann man sich streiten, aber empirisch ist es so, daß die meisten Menschen viele Menschenleben retten möchten.

Man kann nun eine ähnliche Situation konstruieren, in welcher jemand von einer Fußgängerbrücke aus beobachtet, wie diese Lore auf ihr Unglück zurast. Er hätte auch Zeit, jemanden, der übers Brü­ckengeländer schaut, schnell hinunterzustoßen, mit dem geopferten Fremden die Lore zu bremsen und damit die Insassen vor ihrem Unglück zu bewahren. Die meisten Menschen entscheiden sich dagegen, obwohl das Zahlenverhältnis von Getöteten und Geretteten das gleiche wie im ersten Lorenbeispiel ist. In beiden Fällen können fünf Menschen gerettet werden, indem einer geopfert wird.

Warum entscheiden sich im ersten Fall die meisten Menschen dafür, diese Ver­rechnung zu vollziehen, und im anderen Fall nicht? Greene und Mitarbeiter von der Princeton Uni­versity haben Men­schen während der Überlegung dieses ethischen Dilemmas unter einem funktio­nellen Magnetresonanz-tomographen untersucht und festgestellt, daß im ersten Fall wesentlich weni­ger Hirnaktivierung stattfand als im zweiten Fall, in dem sie selber aktiv unmittelbar Hand an einen ande­ren Menschen hätten legen müssen.

Der Mensch kann also gar nicht völlig rational rechnerisch über den Menschen entscheiden. Es hängt vieles von den Handlungszusammenhängen ab, und vieles spricht dafür, daß dieses moralisch auch gut ist. Oder ist es nicht ein Vorteil, daß wir eine Tötungshemmung aufweisen, bei der wir instinktiv daran gehindert sind, jemanden die Fußgängerbrücke hinunterzustürzen, wenn wir diesen Menschen gegen andere Menschen verrechnen wollen? Und ist es nicht eine Schwäche, daß wir uns die Greueltat, einen Menschen zu töten, nicht so leicht vergegenwärtigen können, wenn unsere Hand­lung abstrakt nur an einem Schalthebel der Weichenstellung stattfindet?

Aus diesem Experi­ment kann man auf jeden Fall ablesen, daß Vernunft und Emotionalität nicht ohne weiteres gegen­einander ausgespielt werden können, wenn es um ethische Entscheidungen geht. Man könnte auch daraus folgern, daß es entscheidend ist, sich die Selbsthandlungsdimension zu verge­genwärtigen, wenn es um die Diskussion der Tötung von Menschen geht. Natürlich ist dieser Mangel als extrem bitterlich einzuschätzen, wenn es um die leichthin "rational" (zumeist nur verrechnend) geführte Diskussion der Sterbehilfe geht. Wird dabei eigentlich je bedacht, was es ethisch bedeutet, selbst handelnd einen Menschen zu töten? Jenen Philosophen, die den Unterschied von Handeln und Unterlassen bei ver­rechnenden Überlegungen verwischen, sei die Arbeit von Greene ins Stammbuch geschrieben!

Doch wir müssen noch etwas anderes folgern. Die natürliche Tötungshemmung, die den Menschen auszeichnet, wird offenbar unter der Herrschaft rational erkannter Todesgefahr wegverrechnet. Dies sollte uns dar­auf aufmerksam machen, daß die natürliche Gegebenheit des "Du sollst nicht töten!" heute offenbar explizit thematisch werden sollte. Was also kann gegen Defizite der Vernunft helfen? Vernunft – vielleicht aber auch ein Leben, das vernünftig expliziert werden kann. Zumindest aber die Erinne­rung an Verantwortung. 


Quelle:
LINKE, Detlef B. (2003). Religion als Risiko – Geist, Glaube und Gehirn. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, rororo science Nr. 61488

Detlef B. Linke studierte Medizin, Philosophie und Kommunikationsforschung. Er ist Professor für klinische Neurophysiologie und neurochirurgische Rehabilitation an der Universität Bonn.

Das Loren-Dilemma Text.doc/31. März 2011/Christian Buschan