Christian Buschan MSc Mitbegründer der VITAO ALPEN AKADEMIE |
"Salutogenese - was uns gesund macht und erhält"
Das Gesundheit schaffende Eingreifen
Professionelle Helfer haben im Grunde nur drei Möglichkeiten, Einfluss auf das SOC zu nehmen. Die beiden ersten Varianten beschreiben zeitlich begrenzte, eher geringfügige Veränderungen, die dritte Variante jedoch bezieht sich auf einschneidende Modifikationen. Das erste Prinzip heisst Primum non nocere (lat.: Primär nicht schaden) – das elementarste Prinzip der Medizin. Eine derartige Begegnung des Patient mit dem Helfer verändert sein Leben in der Regel kaum wesentlich. Zweitens können therapeutische Begegnungen so gestaltet werden, dass der Patient sich in ihnen als konsistent erlebt, dass seine Belastungen während dieser Begegnung ausgeglichen sind und dass er deren Bedeutungen versteht und akzeptiert. Auch dieses ist noch kein wesentlicher Fortschritt.
Zum dritten und positivsten Fall: Die Möglichkeit einer vom Therapeuten geplanten Verbesserung des SOC des Patienten. Eine Begegnung dieser Art ermöglicht den Patienten nicht nur, gemachte Erfahrungen neu zu interpretieren. Sie gibt ihnen zusätzlich das Rüstzeug dafür in die Hand, innerhalb ihres eigenen Lebensbereiches konkrete Erfahrungen zu machen, die ihr SOC verbessern, anheben, ausbauen. Dieses therapeutische Vorgehen erleichtert und befördert eine lang anhaltende, konsistente und positive Veränderung in den realen Lebenserfahrungen der Patienten. Dabei kommt der sozialen Unterstützung eine zentrale Rolle zu. Neuere Daten deuten darauf hin, dass soziale Unterstützung nicht nur abfedernde, sondern ganz direkte Effekte bei der Abwehr von Krankheiten hat (Lin, Woelfel und Light, 1985). Um in der eingangs verwendeten Metapher des Flusses zu bleiben: Erstens sind die Flussläufe so zu gestalten, dass auch schlechten Schwimmern ein sie nicht überforderndes Fortkommen ermöglicht wird. Und zweitens sollen sie unter optimaler und gezielter Anleitung guter Therapeuten besser schwimmen lernen!
Das Entscheidende beim Mobilisieren von Ressourcen ist das starke Gefühl von Bedeutsamkeit. Menschen mit starkem SOC werden bei Konfrontationen mit Stressoren eher Engagement, Hingabe und Bereitschaft, sich mit dem Stressor auseinanderzusetzen, empfinden. Sie gehen unmittelbar von der Annahme aus, dass sich diese Auseinandersetzung lohnen wird, dass sie eher eine spannende Herausforderung ist als eine Last, vor der man fliehen sollte. Ein starkes SOC vermag in beliebigen Systemen angesichts von Chaos die Chance zu dessen Umwandlung in Ordnung zu erkennen. Diese Haltung schlägt durch bis auf die Ebene der biologischen Antwortmuster, z.B. in der Form einer messbar verstärkten Immunreaktion.
Antonovsky beschreibt drei zentrale mögliche „Kanäle“, über die das SOC Einfluss nimmt auf den Gesundheitszustand, respektive auf die Position der Person auf dem Gesundheits‑Krankheits‑Kontinuum:
Direkt über das Gehirn: Die Wahrnehmung der Welt als verstehbar, handhabbar und bedeutsam kann das Gehirn dazu anregen, anderen Körpersystemen direkt gesundheitsfördernde Informationen zukommen zu lassen (z.B. Stärken der Immunabwehr).
Durch die Auswahl gesundheitsfördernden Verhaltens: Mehr Reize werden als nicht stresshaft erlebt, professionelle Hilfe wird eher aufgesucht und angenommen, gesundheitsschädliches Verhalten wird vermieden (z.B. Vermeiden von Abhängigkeit / Sucht).
Durch den erfolgreichen Umgang von Personen mit hohem SOC mit Stressoren. Dies führt generell zu deutlicher Spannungsreduktion (z.B. Blutdrucksenkung) und damit zur Vermeidung von Schädigung sowie zu emotionaler und physiologischer Verstärkung.
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Zusammenfassung
Die salutogenetische Orientierung anerkennt und geht davon aus, dass Heterostase, Altern und fortschreitende Entropie die Kerncharakteristika aller lebenden Organismen sind. Die allgegenwärtigen Stressoren werden nicht primär und nicht nur als krankmachend gesehen, sondern als gesundheitliche Entwicklungschancen. Die Salutogenese lokalisiert den Menschen auf einem mehrdimensionalen Gesundheits‑Krankheits‑Konti-nuum. Sie verhindert damit die einseitige Konzentration auf bloße krankmachende Faktoren wie Stressoren. Vielmehr zwingt sie uns, stets die gesamte Geschichte der Patienten zu suchen, zu betrachten und zu bedenken - einschließlich seiner eigentlichen Krankheit.
Diese Denkweise stellt die Copingressourcen des Menschen ins Zentrum unserer Aufmerksamkeit. Deswegen sucht sie auch nicht nach Wunderwaffen, sondern nach allen Quellen der negativen Entropie, die das aktive Anpassen des Organismus an seine Umgebung erleichtern oder fördern können. Und letztlich vermag der salutogenetische Ansatz bereits vorhandene Krankheitsdaten erweitert zu interpretieren, indem sie die abweichenden Fälle, die nicht Erkrankten ins Auge fasst und nach den gesundheitsfördernden Gründen für diese Abweichungen sucht.
Damit ist die salutogenetische Orientierung nicht einfach nur die Rückseite der pathogenetischen Sichtweise. Sondern sie stellt zusätzliche und nicht selten entscheidende Fragen, indem sie einen anderen Blickwinkel wählt und alternative Hypothesen vorschlägt. Sie eröffnet damit nicht nur grundsätzlich neue Wege, sondern sie zwingt zur Konzentration aller Kräfte auf das Weiterentwickeln der Copingtheorie. Denn wer bis zum Ende seines Lebens seine Verhaltensmöglichkeiten laufend erweitert, wird seine Lebenskurve sozusagen rechtwinklig beenden: Bis kurz vor dem endgültigen Knick führt er oder sie ein Leben voller Vitalität. Erikson hat in seinem Buch „Der vollständige Lebenszyklus“ 1982 gezeigt, dass die von ihm so genannte Integrität das strategische Schlüsselelement der letzten Lebensphase ist: Ein Empfinden von Kohärenz und Ganzheitlichkeit, welches sogar den endgültigen Verlust von Bindungen auszugleichen vermag.
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